In der Welt am Sonntag erschien ein langes Dossier über die Arbeit des Kindernotdienstes aus der Sicht eines Mitarbeiters. Es ist ein Knochenjob, ein Job, der wenig Hoffnung macht. Ich kann nur meinen Hut ziehen und für mich ist verständlich, dass das Beste für die Kinder gewollt, aber – wenn man liest, was hier bewerkstelligt werden muss – nicht immer geschafft wird.
Betroffen hat mich das Ende des Artikels gemacht. Dort wird ein Fall geschildert, wie er tausendfach, wohl zehntausendfach sich zuträgt. Es geht zum einen, um häusliche Gewalt, aber auch darum, wie in solchen Fällen an den Ämtern damit umgegangen wird – auf einem – wie ich finde – sehr niedrigschwelligen, fast naiven Niveau:
Jetzt sitzt der Vater von Nadine* vor Müllers Schreibtisch. Komplizierte Sache. Nadine ist acht, sie lebt bei ihrem Vater, bei der Mutter ist sie nur ab und an zu Besuch. Gestern Abend aber hat ihre Tante sie zum Notdienst gebracht, damit sie dort übernachtet. „Sie soll nicht zum Vater zurück, der schlägt sie!“
Ob er Nadine mal hart angefasst habe, fragt Müller den Vater.
„Ja, das kann sein.“
Müllers Kollegin hat erst gestern noch in der Akte notiert, dass sich Nadines Verhalten schlagartig geändert hat, als die Schwägerin wieder weg war. Nadine habe zu ihrem Vater zurückgewollt, bei dem sie seit sechs Jahren lebt. Und Schläge? Nun, ab und zu ein Klaps.
„Nadine ist unglücklich, sie hat Sehnsucht nach Ihnen beiden“, sagt Müller.
„Och“, sagt der Vater, „die Mutter hat gar nicht so viel Interesse an Nadine.“ Kontakt zwischen ihm und ihr sei kaum möglich, sie komme zu keinem Termin beim Jugendamt.
„Eines muss klar sein“, sagt Müller. „Kinder-bitte-nicht-hauen. Mit Gewalt erreichen Sie nur Schlechtes.“ Der Mann nickt stumm. Er steht auf und nimmt Nadine in den Arm. Erleichtert verlässt sie mit ihm das Haus.
Eine halbe Stunde später sitzt Barbara K* vor Müllers Schreibtisch, Nadines Mutter. Auf genau dem Stuhl, auf dem der Vater saß. Die Schwägerin ist mitgekommen.
„Nadine hat Angst“, sagt die Mutter. „Sie würde nie zugeben, dass er sie schlägt.“ Sie wolle ihr Kind bei sich haben. „Ich war sechseinhalb Jahre mit ihm zusammen. Es gab auch häusliche Gewalt.“ Da habe sie ihn rausgeschmissen, Nadine habe dagegen rebelliert. Sie habe sich an das Jugendamt gewandt, „plötzlich hatte ich das Amt nicht mehr auf meiner Seite, sagte zu allem Amen, auch dazu, dass er das Aufenthaltsbestimmungsrecht bekam. Jetzt sagt mein Anwalt, ich soll Beweise gegen ihn sammeln.“
Müller runzelt die Stirn. Warum will die Mutter ihr Kind erst jetzt zurück, wenn sie es doch so sehr vermisst? Wem kann er glauben? Welche Rolle spielt das Jugendamt? Wie auch immer es sein mag, die Eltern laden ihrer Tochter eine viel zu große Bürde auf. Sie zwingen sie, sich für einen zu entscheiden, Vater oder Mutter. Die Kleine muss sich mitschuldig fühlen, wenn die Eltern schlecht übereinander reden. Sie ist erst acht, sie kann nicht verstehen, dass sie mit alldem nichts zu tun hat. Schließlich sagt Müller: „Das mit dem Anwalt können Sie so machen. Aber was Sie noch können: Nadine mal von der Schule abholen, das wünscht sie sich.“
„Darf ich nicht.“
„Dann gehen Sie ins Jugendamt, machen Sie Termine, gemeinsam mit dem Vater. Holen Sie Nadine öfter zu sich.“
Die Schwägerin steht auf. „Ich halte das nicht mehr aus. Zwei Jahre habe ich gebraucht, um sie da mit dem Kind rauszuholen, und nun hilft uns der Staat nicht.“ Sie selbst sei Scheidungskind gewesen, habe beim Vater gelebt. „Ich wurde viel geschlagen, bin dann hier zum KND gegangen. Mein Vater tauchte auf, machte mich rund – und ich knickte ein.“
So viele Geschichten, so viele Versionen von Wahrheit, die nicht zueinanderpassen. Müller kann das nicht heilen. Aber er muss versuchen, einen Weg zu finden, wie sich die Eltern wieder etwas annähern könnten. Damit sie das mit ihrer Tochter auf die Reihe bekommen. Er überlegt eine Weile. Es ist still in seinem Büro. Draußen rauschen Autos wie aus einem fernen Tal vorbei. Irgendwann sagt Müller: „Wir können uns irren, aber eine aktuelle Gefährdung sehen wir nicht. Wir sehen aber die Zerrissenheit von Nadine.“
Die Schwägerin seufzt. „Okay, ich habe mit meinem eigenen Film zu kämpfen, dem von damals.“ Damals habe man sie alleingelassen.
„Wir versprechen, dass wir das Jugendamt informieren und es bitten werden, Ihnen langfristig zu helfen“, sagt Müller. Die beiden Frauen verabschieden sich. Erleichtert, es gibt jetzt eine neue Möglichkeit, eine neue Hoffnung, dass sich etwas bessert. Als die Tür ins Schloss fällt, schaut Stefan Müller nach draußen in den grellen Sonnenschein. Für heute ist seine Arbeit getan.
* Namen geändert
Es geht immer wieder um eine zerbrochene Familie, ein Kind zwischen den Eltern und die häusliche Gewalt. Verschiedene Aussagen, Aggression und Besitzanspruch und Angst, Sorge und die Unfähigkeit, Unwissenheit sich zur Wehr zu setzen, was zu tun ist. Hilflosigkeit.
Und auf der anderen Seite, die Unfähigkeit, sich in die Nöte hineinzuversetzen. Es wird immer gedacht, man würde sich rational verhalten. Wenn jemand Gewalt erfahre, dann würde er auch verschreckt, verletzt wirken. Es sei von außen zu erkennen, was passiert sei. Die Wahrheit sei von außen anzusehen …
Aber das Gegenteil ist meist der Fall. Es wird sich verkapselt, stumm und taub gestellt. Die Gefühle abgeschnitten, der emotionale Spiegel verblendet, häufig schon über Jahre, meist gab es Gewalt schon im Kindes- oder Jugendalter.
Oft arbeiten Menschen in den Ämtern die nichts oder zu wenig über das Thema wissen. Mit fatalen Folgen. Wer sich bedroht fühlt, schweigt meist. Es braucht sehr viel Feingefühl, aber vor allem Zeit, um bei schwer traumatisierten Menschen, eine Öffnung zu bewerkstelligen. Ich bemerke, dass dieser Umstand zu wenig berücksichtig wird.
Es nützt nichts, hier die Geschlechterdebatte weiter anzufachen und zu fragen, ob Väter oder Mütter gewalttätig sind. Laut Faktenlage gibt es auf beiden Seiten Gewalt, Männer sind allerdings – laut Statistik – zehnmal so oft aggressiv, ihre Gewalt hat meist schwere, körperliche Folgen, schon allein wegen der meist körperlichen Überlegenheit der Männer herrscht hier ein Ungleichgewicht. Viele Frauen werden getötet.
Aber auch psychische Gewalt kann schmerzhaft sein, nur die Folgen sind weitaus weniger einschneidend, die Bedrohung weitaus geringer. Doch der Versuch, Gewalt gegen Frauen mit dem Umstand abzutun, es gebe auch Gewalt gegen Männer, finde ich seltsam – schon allein, da diese Fälle miteinander nichts zu tun haben. Das ist eine sinnlose Debatte, die rechtfertigen soll, aber schon das wirkt eher kontraproduktiv bei der Lösungssuche.
Warum sich Jugendämter mit diesem Thema viel mehr auseinandersetzen sollten, ist der Umstand, dass in den meisten Fällen von Gewalt gegen Frauen, diese auch gegen die Kinder angewandt wurde. Was psychologisch schlüssig ist, denn wenn jemand Gewalt als Macht- und Durchsetzungsmittel für sich anwendet, dann wendet er es immer an – egal in welchem Kontext.
Auch steigt die Gefahr für die Kinder, auch durch die gedemütigten, sich bedroht fühlenden und traumatisierten Mütter, dass diese die Aggressionen an ihre Kinder weitergeben. Frauen greifen zum Glück häufig nicht zur körperlichen Gewalt, sondern wählen die leichtere, aber psychisch auch mit weitreichenden Folgen, Methode der emotionalen Gewalt. Hier kehrt sich die Statistik um: Mehr als doppelt so viele Frauen wie Männer wenden diese Art der Gewalt auf ihre Kinder an.
Von emotionaler Misshandlung wird gesprochen, wenn das Kind dauerhaft feindliche Zurückweisung, Entwertung, Verspottung, Drohung, Liebesentzug oder Isolierung erfährt und sich nicht menschenwürdig entfalten kann. Andererseits stellen auch unangemessen kontrollierendes Verhalten, Verwöhnen oder das Drängen des Kindes in eine überfordernde Rolle als Partnerersatz emotionalen Missbrauch dar.
Doch auch hier – und das wird viel zu wenig gesehen und verstanden – ist die eigentliche Ursache und Auslöser die Gewalt des Partners, die übrigens – auch das wird verkannt – sich auch weiter auswirken kann, wenn er nicht mehr im selben Haus wohnt. Es reicht oft eine kleine Drohung, ein Spruch, um das Opfer zu ängstigen. Nur wer hier Hilfe und Schutz bekommt, kann gesunden.
Die Ämter machen sich hier auf fatale Weise mitschuldig, wenn sie den Opfern diese Hilfe versagen, wenn sie sie unglaubwürdig erscheinen lassen.
Und viele treibt die Angst um ihre Kinder um. Denn wenn sich auch die Frauen selbst aus diesem elenden Kreislauf befreien können, müssen sie meist – auch hier mit sind die Ämter nicht unschuldig – ihr Kinder beim gewaltbereite Partner zurücklassen, wenn er diese für sich beansprucht, seine Aggressionen weiter für Drohungen einsetzt. Damit sind die Kinder – und emotional deren Mütter – weiterhin der Gewalt und der Doppelgesichtigkeit der gewalttätigen Väter ausgesetzt, die die Ämter nicht durchschauen können oder vielleicht manchmal auch nicht wollen.
An den Ämter besteht oft noch die naive Einstellung, die Aggression gegen die Frau sei provoziert, das Kind dagegen sei unschuldig und daher würde man es auch anders behandeln. Hier wird von in einer vollkommen Unkenntnis der menschlichen Psyche gehandelt, was mich verwundert, da es so viele Studien über das Thema gibt.
Die Kinderpassage hat sich dem Thema mit der Fragestellung angenommen, wieso so gehandelt wird und stellt Theorien auf, wieso der Umgang mit dem Thema Gewalt an den Ämtern ein so unsicherer ist:
„Die Gründe können vielfältig sein“, so die ZIF, „möglicherweise wird den Müttern von ihren Anwälten empfohlen, nur Anträge zu stellen, die höhere Aussicht auf Erfolg haben. Oder Frauen haben Angst, man werfe ihnen vor, den Kindern den Vater zu entziehen. Einige wollen vielleicht den Täter beschwichtigen, in der Hoffnung, in Ruhe gelassen zu werden. Und einige Frauen glauben vielleicht auch die weitverbreitete Ideologie, der Kontakt zum Vater sei unter allen Umständen gut und wichtig für das Kind.“
Und das Gericht? Wenn dann doch Anträge auf Umgangsaussetzung und alleiniges Sorgerecht gestellt werden, warum haben sie so wenig Aussicht auf Erfolg? „Das liegt an den Bildern in unseren Köpfen“, vermutet Schwarz. Diese Bilder sind gemalt aus drei Idealen: 1. „So etwas gibt es nicht“, 2. „Die Kinder sind viel zu klein, um es zu merken“ und 3. „Besser ein schlechter Vater, als gar kein Vater“.“ Und das ist dreifach falsch. So etwas gibt es. Kinder, und seien sie auch noch so jung, bekommen die Gewalt, in der sie leben, mit. Und es ist definitiv nicht besser von seinem Vater geschlagen, misshandelt oder vergewaltigt zu werden, als gar keinen zu haben!
Ich fordere, dass sich dem Thema mehr angenommen wird. Das den Opfern mehr Gehör geschenkt wird, WAS passiert, wie sie sich fühlen, welche Verhaltensweisen sie an den Tag legen, welches irrationale Verhalten, warum sie schweigen, was mit ihnen passiert – all das, um weg von einem Klischeedenken, hin zu einem realistischen Denken zu kommen, um ein klares Bild von der Situation zu bekommen, damit kompetenter, klarer, mutiger damit umgegangen wird. Und nicht mehr nach dem oben geschilderten Vorgehen: „Ach, kompliziert… Ich weiß nicht… Kann ich mir nicht vorstellen… Klingt nicht so glaubwürdig …“
Hier braucht er mehr Kompetenz, aber auch die Dringlichkeit und Wichtigkeit muss erkannt werden. Und es bedeutet auch, die Täter zu Therapien zu bewegen, ihnen die Form der Unterstützung zu geben, die es im besten Fall ermöglicht, dass sie ihr Verhalten zum Positiven ändern. Ein positives Beispiel kommt für mich aus den USA, wo sich Prominente und Politiker dem Thema angenommen haben, das man wohl nie ganz aus der Welt schaffen wird. Aber man kann den Opfern Gehör verschaffen, das Selbstbewusstsein stärken, Therapien anbieten. Damit wäre schon viel getan.
Nur dann kann sich die Gewaltfolge ändern. Ansonsten wird die Gewalt als probates Mittel an die nächste Generation weitergeben – mit Hilfe der deutschen Ämter.
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